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Zum Bilderbuch; Robbi hat einen ganz blöden Tag hinter sich. Missmutig kommt er zur Tür herein, mit einem kaputten Schläger, offenen Schuhen und zerstrubbelten Haaren. «He! He! Schuhe ausziehen!», ruft sein Vater ihm aus der Küche entgegen. Darauf hat Robbi nur eine Antwort. Sein Schuh fliegt dem Vater entgegen, der eben das Essen auftischen will. «Da!» Der Vater schaut erstaunt, verwundert, verdattert. Und mit Geduld. Zum Abendessen steht Spinat auf dem Tisch. Ausgerechnet Spinat! «Geht's dir eigentlich noch gut?», fragt Robbi. Jetzt reicht's dem Vater aber. «Ab in dein Zimmer», sagt er, «wenn du dich abgeregt hast, kannst du wiederkommen.» – «Ist mir doch egal», brummt Robbi. Er knallt den Löffel auf den Tisch, rückt geräuschvoll seinen Stuhl und steigt mit finsterstem Blick die Treppe hoch. Oben in seinem Zimmer spürt Robbi, wie ein schreckliches Ding in ihm hochsteigt, steigt und steigt, aus seinem Körper hoch in den Kopf, bis es … UUUUAAAAHHHH … ganz plötzlich aus ihm heraus bricht. Ein rotes, riesengrosses, unförmiges Ding mit zornig funkelnden und unternehmungslustigen Augen. «Hallo» sagt es, «was machen wir jetzt?» – «A … a … alles, was du willst», sagt Robbi. Das gefällt dem Ding, es fängt gleich an. Zack, Bettdecke und Kissen fliegen durch die Luft. Peng! Das Nachtkästchen. Witsch! Die Lampe. Und dann das Büchergestell. Poahh! Da purzeln Bücher, Briefmarken, Malkasten durcheinander. Und dann geht das Ding zur Spielkiste. «Nein, die nicht!», greift Robbi ein. Doch das Ding lässt sich nicht stoppen. Es wuchtet die Kiste in die Höhe und dreht sie um. Würfel, Hampelmann, Schwert, Kuschelmaus und Bälle poltern zu Boden. Und auch der schöne, neue, orange Laster! «Kapierst du nicht? Hör auf!», schreit Robbi erschrocken. «Das ist mein Lieblingslaster, du Blödmann!» Schützend stellt er sich zwischen Ding und Laster, nimmt diesen auf den Schoss und streichelt ihn: «Was hat er dir getan, der Spinner? Sei nicht traurig, ich mach alles heil. Und du, hau ab, du Trottel!» Er funkelt das Ding zornig an. Da schmilzt es in sich zusammen und schaut plötzlich ganz elend aus. Robbi schaut sich im Zimmer um: «Oh, meine arme kleine Lampe!» Er hebt sie auf und stellt sie zurück auf den Nachttisch. «Und mein Kopfkissen, ganz zerdrückt hat er dich.» Zärtlich streichelt er über die weichen Federn. «Und mein allerliebstes Buch! Lauter Eselsohren hast du.» Robbi hockt sich zu Boden und biegt die Seiten gerade. «So, jetzt geht’s schon wieder.» Jetzt muss er sich aber um das Ding kümmern. Es hat sich hinter dem umgeworfenen Stuhl versteckt. Wie klein es geworden ist. Er packt es und sperrt es, flugs, in eine Schachtel. «Los, hier rein. Und keinen Mucks mehr!» Jetzt ist das Ding gebändigt und kann keinen Schaden mehr anrichten. Zufrieden stellt Robbi das Büchergestell auf und stellt die Schachtel darauf. Er spürt plötzlich seinen Hunger. Und Dessertlust. Er öffnet die Zimmertür und hört seinen Vater in der Küche mit dem Geschirr klappern. «Du Papa? Krieg ich noch Nachtisch?»; ; Interpretation; Ein dreijähriges Kind kann von seinen Gefühlen, vor allem von der Wut, völlig überwältigt werden. Jeder Wutanfall ist ein Elementarereignis, das nicht nur die Erwachsenen, sondern vor allem auch das Kind stresst. Der Entwicklungspsychologe R. Kegan schreibt, dass das Kind in diesem Alter die Wut nicht habe, sondern sei.; Es verliert sich selbst darin. Es passieren ihm Dinge, die es gar nicht machen wollte. Es schreit, es tobt, es gerät völlig ausser sich. Es ist ihr jedesmal – noch – ausgeliefert. Es hat im Moment der Wut keine Möglichkeit, sie zu steuern. ; Das Schlimmste daran ist, dass es nur noch die Wut spürt und die Liebe verlorengegangen scheint. Die Mama, der Papa, die das Kind eben noch so gern hatte – denn es erlebt die Liebe gleich heftig und ausschliesslich wie die Wut – empfindet es jetzt als böse und gemein. Seine nächsten Bezugspersonen erlebt es als Gegner. Der Boden, auf dem es stand, wankt. Die Hülle der Geborgenheit, die es umgab, scheint im Moment zu bersten. Die Wut: stärker als das Kind.; Die vorliegende Geschichte zeigt den Ablauf der Wut auf sehr einfühlsame Weise. Da steigt ein fleischgewordenes Wut-Ding aus Robbis Rachen. Es ist nicht Robbi, der seine Sachen zerstört (das würde er selbst doch nie tun), sondern es ist die verselbständigte Wut, die das tut. Erst ist Robbi nur Zuschauer, bis er realisiert, dass das Wut-Ding seine von ihm geliebten Sachen zerstört. Die Grenze der Wut ist die Liebe. Da greift Robbi ein und gebietet dem Wut-Ding Einhalt, weil er seine Beziehung zu den zerstörten Dingen plötzlich wieder spürt. Jetzt kann er wieder handeln und der Wut gegenübertreten. Und siehe da, das Wut-Ding wird kleiner und kann eingesperrt werden. Jetzt ist Robbi wieder Herr der Dinge. Ein wunderbares Gefühl. Er hat seine Wut gemeistert.; Mit dem Durchleben jedes Wutanfalles wächst die Erfahrung, wie damit umgegangen werden kann. Etwa im Kindergartenalter haben die meisten Kinder gelernt, die Wut besser zu beherrschen und zu steuern. Jetzt «ist» das Kind nicht mehr die Wut, sondern es hat Wut. Es weiss jetzt: Sogar wenn ich auf jemanden wütend bin, kann ich ihn gleichzeitig noch liebhaben. ; Trotzdem: Bis ins Erwachsenenalter kann einen die Wut immer wieder neu und überraschend überwältigen. Plötzlich rastet man aus. Wer von den Vätern und Müttern kennt das nicht – und leidet manchmal sehr darunter.; Gefühle wie Wut und Aggression können und sollen nicht verhindert werden. Auch deren Unterdrückung hilft nicht weiter – wehe, wenn sie dann trotzdem explodieren oder sich gegen einen selbst richten. Die aggressiven Gefühle haben in der Entwicklung des Menschen eine wichtige Funktion. Sie helfen ihm, sich selber besser kennenzulernen und sich selber zu werden. Der Mensch braucht die aggressiven Impulse, um sich abzugrenzen, sich durchzusetzen, Nein zu sagen, selbständig und eigenständig zu werden. In der Wut ist Kraft. Das Durchleben und Erforschen der aggressiven Gefühle soll dem Menschen ermöglichen, deren Kraft für seine eigenen Ziele einzusetzen. Welche produktive Form das annehmen kann, ist in der Feier «Ich will Wurst» dargestellt.; Zugleich scheinen sie gefährlich, weil sie zerstören können. Es ist ein langer Weg, bis ein lebensfreundlicher Umgang mit ihnen gefunden ist. Eine lange Entdeckungsreise, und kleine Kinder stehen erst ganz an deren Anfang.; Die Wut braucht Raum, Zeit, Geduld und weit gesteckte Grenzen. So ist es plötzlich nicht mehr so schlimm, den Wutanfall zu durchleben und nachher zu merken, dass er vorbeigegangen ist wie ein Gewitter. Was die Wut begrenzt, sind liebevolle Beziehungen zu den Dingen und zu den Menschen. Wenn diese aufgebaut werden konnten, werden sie für die aggressiven Gefühle zu hilfreichen Leitplanken und geben ihnen eine sinnvolle Richtung.; In diesem Sinne führt Erziehung, die liebevolle, wechselseitige und Halt gebende Beziehungen aufbaut, zur Prävention von Gewalt; Für Erwachsene, die den Wutanfällen ihres Kindes hilflos gegenüberstehen oder die sich angegriffen fühlen, kann diese Information entlastend sein. Wenn sich das Kind in der sogenannten Trotzphase schreiend am Boden wälzt, macht es dies nicht aus Bösartigkeit oder Widerstandslust, sondern weil es seine aggressiven Gefühle kennenlernen und erforschen muss. Und weil es von ihnen im Moment überwältigt wird. Darunter leidet es selbst am meisten. Daraus ergibt sich die Aufgabe der Erwachsenen, auch wenn sie schwierig scheint: Das – möglichst – geduldige Warten der Erwachsenen, bis der Anfall vorbei ist. Zeit ist ein Heilmittel. Und das Anbieten von Halt: sei es durch Berühren und Festhalten, sei es durch Schaffen von Distanz zu dem Wut erregenden Ereignis, sei es durch geduldiges Zureden. Einem dreijährigen Kind, das im Wutanfall seinen Halt verliert, muss der Halt von Aussen wieder gegeben werden. Ein etwas älteres Kind hat bereits erlebt, dass es den Halt schon wieder finden wird, wie Robbi, der die Situation alleine meistert und gestärkt und eigenständig daraus hervorgeht.; Das Schlimmste, das einem Kind passieren kann, ist, wenn ihm wegen eines Wutanfalls die Liebe der erwachsenen Bezugspersonen entzogen wird. Oder wenn es mit einem Wutanfall die erwachsenen Personen so beherrschen kann, dass diese zum Beispiel alle Wünsche des Kindes prompt erfüllen, nur damit die Wut aufhört. Dann erlebt es: Die Wut ist wirklich grösser als die Liebe. Es wird dann sehr schwierig, ein der Realität angemessenes Verhältnis zur Wut zu entwickeln und die aggressiven Gefühle in den Dienst der Selbstwerdung zu stellen.; Hilfreich und stärkend ist auch das Erzählen von solchen Geschichten wie die von Robbi. Sie hilft den Kindern zu verstehen, was mit ihnen geschieht. Sie sagt ihnen, dass die Wut vorbeigehen wird, dass die Liebe stärker ist, dass man sich selber wieder finden wird. Sie bietet eine kreative Spielfigur, das Wut-Ding an, um die Wut zu erforschen, auszudrücken, zu begrenzen und steuern zu lernen.; Dass eine solche Geschichte gerade in der Kirche erzählt wird, ist besonders bedeutsam. Repräsentiert doch die Kirche für viele Menschen von Gott verordnete Aggressionsunterdrückung, Selbst-Verleugnung, Bravheit – woran sie sicher nicht ganz unschuldig ist, was aber ebenso sicher nicht der biblischen Botschaft entspricht. |